25.08.2020 | Redaktion Blog

Agile Arbeitsorganisationen aufbauen

Wie sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus? Nicht nur bei den Angestellten der Toll Collect GmbH befindet sich der Arbeitsalltag seit einigen Monaten stark im Wandel. Die Blogredaktion sprach mit dem Diplom-Psychologen und Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie Professor Jochen Prümper über den Kulturwandel in der Arbeitswelt.

Home Office, Flexwork, Telearbeit – begeben wir uns in eine schöne neue Arbeitswelt?

Wir steuern auf eine neue Arbeitswelt zu, die zunehmend flexibel, individuell, digital und dezentral organisiert ist. Ob dies eine schöne Arbeitswelt wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ausschlaggebend sind die Wechselwirkungen zwischen der Nutzung der Informationstechnologie, einem Arbeitsplatz in einer spezifischen Arbeitsumgebung, den verschwimmenden Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit und den Merkmalen unterschiedlicher Tätigkeiten. Wir können eine attraktive Arbeitswelt der Zukunft schaffen, wenn wir in einem ganzheitlichen Ansatz individuelle menschliche Erwartungen und Erfahrungen, organisatorische und technische Ressourcen und nicht zuletzt Umweltgegebenheiten harmonisch miteinander verknüpfen.

Der Erfolg dieses Transformationsprozesses hängt auch davon ab, inwieweit es Organisationen gelingt, ein vielfältiges Angebot verschiedener Arbeitsstrukturen, zwischen denen die Beschäftigten wählen können, zu entwickeln.

Deutschland gilt als Land der Anwesenheitskultur. Wie nachhaltig sind die derzeitigen Veränderungen?

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern arbeiten wir in Deutschland deutlich seltener mit mobilen Informations- und Kommunikationstechnologien oder in Telearbeit. Dies liegt daran, dass bislang in vielen Organisationen noch die technischen und strukturellen Voraussetzungen für die Arbeit von zu Hause aus fehlen. Dies wird sich sicherlich, angetrieben durch die COVID-19-Pandemie, nachhaltig ändern. Dazu bedarf es jedoch, neben der „technischen Aufrüstung“, eines grundlegenden Kulturwandels. Um den gerade entstandenen Schwung zu nutzen, sollten Organisationen bereit sein für Innovationen, die neuen Technologien strategisch in ihre Prozesse integrieren und agile Arbeitsorganisationen aufbauen. Für die Personalentwicklung und für jeden einzelnen Beschäftigten bedeutet dies zu verstehen, dass in diesem Prozess digitale Kompetenzen zunehmend zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen werden und zudem entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen beitragen.

Vor- und Nachteile von Telearbeit

Wie sollte Telearbeit strukturiert sein, um psychische Belastungen zu vermindern und die Motivation aufrecht zu erhalten? Wie schaffen es Teams, auch bei längerer Abwesenheit vom Büro ein Wir-Gefühl zu bewahren?

Studien zeigen, dass bei Telearbeit eine Tendenz zur Vereinzelung zu beobachten ist und die Gefahr besteht, dass Gesundheitsschutz und Sicherheit bei der Arbeit vernachlässigt werden. Der Erfahrungsaustausch und die Chancen gemeinsamer Interessenvertretung können ebenfalls beeinträchtigt werden. Die Einbeziehung in den Informationsfluss des Unternehmens, die Abstimmung mit Vorgesetzten sowie die sozialen Kontakte zu Arbeitskolleginnen und -kollegen sind kritische Faktoren für eine erfolgreiche und zufriedenstellende Umsetzung der Telearbeit. Auch gibt es die nachgewiesene Tendenz, dass viele Beschäftigte in Telearbeit außerhalb der üblichen Arbeitszeiten auch abends oder nachts arbeiten. Telearbeit kann so auch zur Selbstausbeutung mit möglichen langfristigen Folgen für die Gesundheit führen.

Teammeetings per Web-Konferenz gehört inzwischen zum Arbeitsalltag – nicht nur bei Toll Collect

Allerdings profitieren Beschäftigte auch von Telearbeit. Sie ermöglicht eine flexiblere Zeiteinteilung, einen leichteren Wiedereinstieg, zum Beispiel nach Elternzeit oder längerer Krankheit. Wer zu Hause arbeitet, muss seltener pendeln – das spart Zeit und Kosten. Ruhe in den eigenen vier Wänden erleichtert das konzentrierte Arbeiten. Zu Hause zu arbeiten bedeutet eigenverantwortlicher und selbstständiger zu arbeiten – das motiviert.

In diesem Zusammenhang verweise ich gerne auf die Empfehlungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die erfolgreiche Gestaltung von Telearbeit.

Hinzukommen muss aus meiner Sicht der schon erwähnte Aufbau von digitalen Kompetenzen, konkret von digitalen Sach-, Sozial- und insbesondere Selbstkompetenzen.

Was meinen Sie damit?

Digitale Sachkompetenz meint, dass die digitale Transformation Fachwissen über moderne I&K-Technologien und den Umgang mit dem Internet als berufliches Medium erfordert. Digitale Sozialkompetenz zielt darauf ab, dass zunehmend dezentrale Entscheidungsstrukturen, zeitlich und örtlich flexible Arbeitsorganisationen und die Arbeit in virtuellen Teams hohe Kooperationsbereitschaft und ausgeprägte Kommunikationsstärke der Beschäftigten voraussetzt. Neue mobile Techniken der Kommunikation und des Datenaustausches stellen neue Anforderungen an Kommunikationskompetenz und -bereitschaft. Da die digitale Transformation zunehmend hohe Anforderungen an die Belastbarkeit, Anpassungsfähigkeit sowie zeitliche und örtliche Selbstorganisation der Beschäftigten stellt, wird digitale Selbstkompetenz zum Dreh- und Angelpunkt, um psychische Belastungen zu vermindern und die Motivation aufrecht zu erhalten. Sie beschreibt die Fähigkeit, in flexiblen Arbeitsorganisationen, virtuellen Teams und dezentralen Entscheidungsstrukturen sich und die eigene Arbeit eigenverantwortlich zu organisieren. Im Vordergrund stehen hier Themen wie zum Beispiel Zeitmanagement, Flexibilität, Prioritätenmanagement, Gesundheitsmanagement.

Führung in der neuen Arbeitswelt

Was bedeuten die Veränderungen für die Rolle und Verantwortung der Führungskräfte?

Mit der Einführung von Telearbeit stellen sich neue Anforderungen an die Personalführung. Als Folge der Abflachung von Hierarchien, abnehmender örtlicher und zeitlicher Bindung der Leistungserstellung, geringerer direkter Kommunikation und der abnehmenden unmittelbaren Beaufsichtigung der Beschäftigten durch Vorgesetzte können bisherige Führungs-, Anreiz- und Kontrollinstrumente nicht unverändert angewandt werden.

Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für Führungskräfte?

Beziehungsmanagement gewinnt in einer Kultur des Vertrauens eine neue Dimension. Die persönliche Bindung wird zunehmend über digitale Medien aufgebaut. Ausgereifte Systeme zum Employee Relationship Management (ERM), die auch der einzelnen Führungskraft zur Verfügung stehen, können diese Entwicklung im Betrieb aufgreifen. Jedoch ersetzen Softwarelösungen regelmäßige Face-to-Face-Treffen nicht.

Ein weiterer Punkt: Digitalisierte Mobilarbeit verlangt insbesondere von Führungskräften mediale Kompetenz. Die digitale Arbeitswelt ermöglicht, dass aus Kommunikation, Kooperation und aus Koordination Kollaboration werden kann. Führungskräfte sollten dabei Social Media nutzen, die mediale Monologe in Dialoge wandeln.

Das klingt nach einem neuen Führungsverständnis.

Ja. Die Denkweise, nach der insbesondere Ziele vorgegeben, auf die Einhaltung von Normen gepocht und mit Belohnungen und Sanktionen operiert wird, war gestern. Die Zukunft liegt in der transformationalen Führung, das heißt: Führungskräfte nehmen Einfluss durch Vorbildlichkeit und Glaubwürdigkeit. Sie lassen den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern individuelle Unterstützung zuteilwerden. Sie motivieren durch begeisternde Visionen und regen zu kreativem und unabhängigem Denken an.

Professor Jochen Prümper Diplom-Psychologe und Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie Foto: Paulina Sophie Prümper

Eine erfolgreiche Win-Win-Situation wird Telearbeit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wenn beide ein gegenseitiges Verständnis für die jeweiligen Sorgen und Hoffnungen entwickeln und für ihre Organisation einen gemeinsamen Weg entwickeln, in der die Chancen bestmöglich genutzt und die Risiken offen angesprochen und vorbeugend angegangen werden.

Telearbeit als Entscheidungshilfe

Was sind die Erfolgskriterien dafür, dass Telearbeit für beide, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zu einer Win-Win-Situation führt?

Chancen für Beschäftigte ergeben sich daraus, dass alternierende Telearbeit das Risiko von Konflikten zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben reduziert und sich dies positiv auf das Autonomieempfinden der Beschäftigten auswirkt. Insbesondere Letzteres erhöht sowohl die Arbeitszufriedenheit als auch die Leistung von Beschäftigten und verringert Rollenstress und Fluktuationsneigung. Ein weiterer Nutzen besteht in der freien Zeiteinteilung und einem ungestörten Arbeiten zu Hause nach dem persönlichen Rhythmus, der Herauslösung aus bürokratischen Abläufen im Betrieb, selbständigem Arbeiten, höherer Produktivität, Kosten- und Zeitersparnis durch die Verringerung der Fahrten zwischen Wohnung und Betrieb sowie besserer Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Zudem eröffnet Telearbeit mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen.

Die Chancen für Unternehmen liegen insbesondere in höherer Motivation und geringerer Personalfluktuation sowie höherer Produktivität – auch durch geringere krankheitsbedingte Fehlzeiten – und Effizienz. Weitere Vorteile sind ein geringerer Flächenbedarf an Büroräumen und eine Reduzierung der Nebenkosten. Zudem gibt es Hinweise, dass Telearbeit den Erwartungen jüngerer Generationen entspricht und deshalb die Arbeitgeberattraktivität gerade bei dieser Zielgruppe steigert.

Eine erfolgreiche Win-Win-Situation wird Telearbeit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wenn beide ein gegenseitiges Verständnis für die jeweiligen Sorgen und Hoffnungen entwickeln und für ihre Organisation einen gemeinsamen Weg entwickeln, in der die Chancen bestmöglich genutzt und die Risiken offen angesprochen und vorbeugend angegangen werden. Eine anlassbezogene, thematisch auf das Thema Telearbeit fokussierte Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung kann auch in diesem Zusammenhang gute Dienste leisten.

Welchen Stellenwert hat das Angebot von Telearbeit im Wettbewerb der Unternehmen um Fachkräfte und Talente?

Das Angebot von Telearbeit ist ein Puzzleteil des Gesamtkonstrukts Arbeit 4.0, in der es darum geht, dass sich die Arbeitsweisen an die Herausforderungen und Möglichkeiten der digitalen Welt anpassen. Allen voran die „Young Professionals“ der Generationen Y und Z haben den Anspruch, dass potentielle Arbeitgeber zu den persönlichen Wertvorstellungen passen – und dazu gehört auch die Möglichkeit, Telearbeit wahrnehmen zu können. Fachkräfte möchten zunehmend mehr Eigenverantwortung und ihre individuellen Ansprüche realisieren. Im Zentrum der Arbeitswelt 4.0 steht der Mensch. Digitalisierte Mobilarbeit fordert daher auch neue Wege der betrieblichen Qualifizierung, ein präventionsorientierteres betriebliches Gesundheitsmanagement sowie eine zeitgemäße Unternehmenskultur und attraktive Arbeitszeitmodelle.

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